Netto Null oder Klimaneutralität bedeutet, dass durch gezielte Maßnahmen die gleiche Menge an Treibhausgasen, die durch menschliche Aktivität entsteht, wieder aus der Atmosphäre geholt wird. Wenn also 100 Tonnen Treibhausgase ausgestoßen werden, müssten an anderer Stelle 100 Tonnen eingespart oder wieder entfernt werden. Das kann durch sogenannte naturbasierte Lösungen wie Aufforstung passieren oder durch technische Anwendungen wie „Carbon Capture and Storage“, also das Auffangen und unterirdische Speichern von CO2. Klingt erstmal gut, schließlich ist tatsächlich die Gesamtmenge an Treibhausgasen in der Atmosphäre relevant für die Stabilität des Klimas. Aber auf den zweiten Blick gibt es zahlreiche Probleme mit dem Netto-Konzept – es funktioniert nicht, verstärkt neokoloniale Strukturen und ermöglicht Greenwashing, wie es im Buche steht.

Eine Lektion in der Kunst des Greenwashings: klimaneutrale Flughäfen

5 Gründe, wieso die Rechnung nicht aufgeht

Die einfache Rechnung mit der Netto Null geht an allen Ecken und Enden einfach nicht auf. Hier sind fünf Gründe dafür:

  1. Für all die Netto Null Versprechen, die Unternehmen und Staaten in die Welt setzen, gibt es ohne sehr starke Emissionsreduzierungen – die in den zugehörigen Plänen allerdings nicht vorkommen – einfach nicht genug Kapazitäten zum Entzug von Treibhausgasen aus der Atmosphäre. Alle Lösungen, naturbasiert und technisch, brauchen sehr viel Land. Wenn wir aber auch noch irgendwo wohnen und Lebensmittel anbauen wollen, haben wir dieses Land einfach nicht.
  2. Die technischen Lösungen wurden noch gar nicht in großem Stil erprobt. Es ist unklar, ob sie überhaupt funktionieren und sicher sind.
  3. Bei den meisten Kohlenstoffsenken ist nicht garantiert, wie lange sie halten. Wälder und Moore zum Beispiel können unter schlechten Bedingungen – die durch die Klimakrise mehr und mehr vorherrschen – sogar anfangen, mehr Kohlendioxid abzugeben, als sie wieder aufnehmen [1]. Gerade erst ging durch die Medien, dass der Amazonas diesen kritischen Punkt nun überschritten hat [2]. Zudem sind diese Senken Teil des sogenannten „kleinen“ Kohlenstoffkreislaufs – ein natürlicher Kreislauf, in dem in relativ kurzen Zeitabständen Kohlenstoff aufgenommen und wieder abgegeben wird. Das CO2, das für Netto-Null der Atmosphäre entzogen werden soll, stammt aber aus fossilen Energieträgern, die Teil eines anderen, natürlicherweise viel langsameren Kreislaufs sind. Um die natürliche Balance zu erhalten, müsste es auch dauerhaft wieder gespeichert werden, statt in den kleinen Kreislauf überführt zu werden.
  4. In der praktischen Umsetzung bedeutet Netto Null oft den Handel mit sogenannten Zertifikaten oder Offsets. Das heißt, die Verschmutzer führen die Ausgleichsmaßnahmen nicht selbst durch, sondern bezahlen andere dafür, dies zu tun. Dieser Handel ist sehr unübersichtlich und es ist schwer zu prüfen, ob es sich tatsächlich um zusätzliche Maßnahmen handelt – das aber ist Voraussetzung dafür, dass das System funktioniert.
  5. Solange einmal ausgestoßene Treibhausgase in der Atmosphäre sind, tragen sie zur Erderhitzung bei – wenn sie später wieder entfernt werden, kann bereits viel Schaden entstanden sein.    

Ausgleichsmaßnahmen richten Schaden an und verstärken neokoloniale Strukturen

Wir haben also gesehen, dass das Netto Null Versprechen in vieler Hinsicht eine Mogelpackung ist. Doch damit nicht genug: Die getroffenen Maßnahmen richten oft sogar Schaden an und reproduzieren neokoloniale Strukturen. Denn meistens sind es Akteure im Globalen Norden, die mit Projekten im Globalen Süden ihre Emissionen ausgleichen wollen, statt sie zu vermeiden. Die Rechte und Interessen der lokalen Bevölkerung werden dabei oft missachtet. Dies trifft insbesondere indigene Gruppen, die in besonderem Maße von ihrem Land zum Überleben abhängig sind, und andere gesellschaftlich marginalisierte Gruppen.

Zum Beispiel in Chile: In Alto Maipo, nahe der Hauptstadt Santiago, wird ein Wasserkraftwerk gebaut. Das Projekt ist beim Clean Development Mechanism registriert, einem Mechanismus unter dem Dach der UN-Klimarahmenkonvention, über den Offsets erworben werden können. Doch durch den Staudamm wird die Wasserversorgung der Region, inklusive in Santiago, massiv gefährdet. So sehr, dass der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte darin eine Gefährdung der Menschenrechte sieht [3].

Netto-Null-Versprechen verzögern echte, schnelle Maßnahmen

Wieso sind also Netto-Null-Versprechen so beliebt, obwohl sie so unwirksam sind? Der Grund dafür ist einfach: Sie erlauben es Staaten und Konzernen, Klimaschutz vorzutäuschen, ohne die komplexe, teure Aufgabe anzugehen, ihre Emissionen in den nächsten Jahren tatsächlich zu senken. Sie sind also ein Instrument, um kritische Nachfragen abzuwehren, ohne tatsächlich etwas ändern zu müssen. Spätestens wenn Großkonzerne wie Shell oder Amazon Netto-Null-Ziele verkünden, aber ihre zerstörerischen Geschäftsmodelle beibehalten wollen wird klar: Es handelt sich um Greenwashing pur. Je mehr Menschen sich davon blenden lassen, desto besser funktioniert dieses Instrument und desto tiefer schlittern wir in die Klimakrise hinein. Lasst uns deshalb genau hinschauen, das Märchen von der Netto-Null hinterfragen und echten Klimaschutz einfordern: Kohle, Öl und Gas im Boden lassen.

 

Quellen

[1] The Bulletin

[2] The Guardian

[3] Center for International and Environmental Law