Das Team von threefifty2pt0.staging.wpengine.com war tief betroffen, als uns diese Woche die Nachricht erreichte, dass der englische Fotograf und Filmemacher Ben Winston am vergangenen Wochenende verstorben ist. Viele Team-Mitglieder haben Ben dieses Jahr bei Ende Gelände kennengelernt und obwohl es nur eine kurze Begegnung war, waren wir alle von seiner Leidenschaft, seiner Energie und seiner besonnenen Art tief beeindruckt. Unsere Gedanken sind bei seiner Familie und seinen Freunden.
Ende Gelände war für Ben das erste Mal, dass er sich an einer Aktion zivilen Ungehorsams beteiligte. Seine Entschlossenheit, im Angesicht der Klimakrise alles zu tun, was er konnte, war eine Inspiration für alle. In vielerlei Hinsicht verkörperte er das, was wir mit unserer Arbeit erreichen wollen: Menschen auf ihrem Weg zu unterstützen, gemeinsam in Aktion zu treten, Raum für ihre Talente und ihre Lebenserfahrung zu eröffnen und stärker zu werden. In all das tauchte er mit Liebenswürdigkeit, Engagement, Scharfsichtigkeit, Humor, Neugierde und unglaublicher Leidenschaft ein.
Was er nach der Aktion schrieb, hat vielen Menschen dabei geholfen, ihre eigenen Gefühle über die Erfahrung mit Ende Gelände zu verarbeiten. Es folgt eine bearbeitete Version eines von ihm verfassten Artikels über seine Erfahrung, zum ersten Mal bei einer Aktion dabei gewesen zu sein. Die dreiteilige Originalfassung kann auf seinem Blog unterbenwinstonphoto.wordpress.com gelesen werden.
Ich renne und renne und bin nur einer von hunderten, die rennen, um den Schlagstöcken und dem Pfefferspray zu entkommen, die rennen, um die Polizeisperre zu durchbrechen und weiter, immer weiter über das Feld in Richtung Tagebau rennen. Während meine Beine pulsieren und das Adrenalin durch meinen Körper rauscht, drehe ich mich um und sehe etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren und die Zeit stillstehen lässt. Ich sehe einen Mann in schwerer Uniform mit Helm und Schlagstock, der weit ausholt und die gesamte brutale Gewalt seiner Aggression in das Gesicht einer Frau ablädt, die ihm gerade den Weg kreuzt. Die Wucht des Schlags schmettert sie nieder, aber ich sehe nicht einmal, wie sie zu Boden geht, weil ich weiter renne und denke, dass ich das hier nicht gewollt habe und dass ich nicht hier sein will und dass ich Todesangst habe. Weil ich kein Aktivist bin. Das hier ist nicht das, was ich normalerweise tue. Ich bin ein relativ normaler Typ in den besten Jahren, der sich in Form von Clicktivism beteiligt, wenn er die Zeit dafür findet. Direktaktionen sind nicht mein Ding. Ich bin nicht dafür gemacht, hier zu sein, zusammen mit hunderten von Menschen durch das Braunkohlerevier im Rheinland zu laufen, um zu versuchen, einen verdammt riesigen Tagebau für einen Tag außer Betrieb zu setzen.
Seltsamerweise bin ich trotzdem hier.
Ich renne, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Ich renne, weil ich zu viel weiß, um still zu stehen. Ich renne, weil der Klimawandel bereits in vollem Gange ist und weil ich Angst vor Hitzewellen und Dürren und Massensterben und Überschwemmungen habe. Ich renne, weil ich handeln muss – wir alle müssen handeln. Und wir müssen jetzt handeln.
Also handle ich, so schnell ich kann. Ich renne weg von der Polizei, weg von meiner Entmachtung, weg von meiner Apathie und meinem Fatalismus. Ich renne und weiche Schlagstöcken und Pfefferspray aus und eine Urangst, mächtiger als ich sie jemals in meinem ganzen Leben erfahren habe, sitzt mir in Mark und Bein.
Nachdem wir die Polizeisperre durchbrochen haben, finden wir uns wieder zusammen. Diejenigen, die sehen können, führen die diejenigen, die Pfefferspray abbekommen haben. Wir laufen immer weiter und formen wieder die schützende Masse, die zweihundert entschlossene Menschen bilden können. Aber ich fühle, wie ich vor Angst zittere. Das hier ist mit nichts vergleichbar, was ich je erlebt habe. Ich frage mich, wie ich so naiv hatte sein können. Was habe ich eigentlich erwartet, als ich mich dafür gemeldet habe, ungebeten bei Europas größtem CO -Verursacher hereinzuplatzen? Ein Begrüßungsbier und eine Umarmung? Ich will dieser absurden Situation entfliehen, aber dann wird mir klar, dass ich jenseits der ängstlichen Stimme meiner Gedanken mit Herzblut dabei bin. Das sind wir alle.
Andere werden das alles fühlen, aber wir haben nichts als unsere Entschlossenheit und unsere Anzahl. Ich will auf keinen Fall untergraben, was unsere einzige Stärke ist. Wie durch ein Wunder schaffen wir es schon bald bis zum Rand des Tagebaus. Die Dimensionen sind schier unbegreiflich. Das Gelände erstreckt sich gut 20 Kilometer in die Länge. Und es ist ganze 12 Kilometer breit. Ich kann mir kaum vorstellen, wie eine Gruppe kleiner, zerbrechlicher Menschen ein Problem von solchem Ausmaß tatsächlich bewältigen soll. Die Wahrheit ist, wir wissen selbst noch nicht, ob wir das überhaupt können. Aber wir werden es versuchen. Mehr als tausend Menschen bewegen sich in vier Gruppen auf die Grube zu; vier Finger des Widerstands schlängeln sich durch das Rheinland. Von den Polizeihubschraubern aus betrachtet müssen wir ein beeindruckendes Bild abgeben.
Photo: Paul Wagner
Aber was man von den Hubschraubern aus nicht sehen kann ist, wie viele von uns so etwas wie das hier zum allerersten Mal machen. Menschen wie ich, die noch nie im Leben Polizeigewalt erfahren oder das furchteinflößende Erlebnis gemacht haben, eine Absperrung zu durchbrechen. Warum sind so viele von uns hier? Was ist es, dass uns normale, gesetzestreue Bürger dazu zwingt, unsere Freiheit und Sicherheit aufs Spiel zu setzen?
Ich glaube, der Grund liegt in der Dringlichkeit der Klimakrise und dem Gefühl, dass Handeln – egal welcher Art – zum moralischen Gebot geworden ist. Wir wissen, dass wir nicht einfach aus Eigeninteresse handeln, sondern für unseren Planeten und unsere Kinder. Wir spüren die Wut, die Traurigkeit und die Verständnislosigkeit der zukünftigen Generationen, die voller Ungläubigkeit auf uns zurückblicken werden. „Was für eine schöne Welt“, werden sie denken. „Welchem Wahnsinn sind unsere Eltern verfallen, sie zu zerstören?“
Gemeinsam laufen wir über den oberen Teil der Grube und dann hinunter zu den Baggern. Wir singen und summen mit einer Mischung aus Zweifel und Hoffnung. Gewaltfrei und unaufhaltsam, schwindlig von dem Hochgefühl und dem Adrenalin. Dann schwindet die Angst allmählich und meine Aufmerksamkeit weitet sich, um diesen unglaublichen Ort zu erfassen. Rechterhand windet sich eine endlose Klippe den Rand entlang. Ein Kunstwerk aus Sandpigmenten, das die tiefen Schürfwunden der Baggerschaufeln trägt. Linkerhand senkt sich die Grube in einer Reihe von Terrassen in die Ferne hinab, von denen jede einzelne tiefer ins Erdreich hinunter führt, das immer dunkler und dunkler wird, bis es schließlich vollkommen schwarz ist. Durch die Grube ziehen die Bagger, unvorstellbare Bestien mit Schaufelzähnen und gewaltigen stählernen Rachen, die die Kohle herausgraben und auf 16 Kilometer lange Förderbänder spucken.
In dieser Mine sind Zeit und Raum verzerrt. Nur ganz verschwommen nehme ich die Jeeps des Kohlekonzerns RWE in der Ferne als Gefahr wahr. Als die Jeeps sich nähern und schließlich mit quietschenden Reifen in einer orangen Staubwolke zum Stehen kommen, als die Türen auffliegen und schwarze Silhouetten aus den Wagen springen, da dämmert mir ganz langsam und wie durch einen dichten, schweren Schleier, dass jetzt die Gewalt erneut ausbrechen wird. Wir bilden eine dichte Menge, haken uns unter, gehen schnellen Schrittes weiter auf die Polizisten zu, die ihre Helme aufsetzen, ihre Schlagstöcke ziehen und die Dosen mit dem brennenden Pfefferspray zücken.
Als ihre Gesichter hinter den Visieren verschwinden, verlieren sie die letzten noch verbliebenen Züge ihrer Menschlichkeit. Wir marschieren auf ein Heer von Maschinen zu. Wie von selbst und ganz instinktiv dehnt sich unser Finger längs über die Terrasse aus, Arm in Arm und Hand in Hand. Plötzlich sind die Polizisten diejenigen, die umzingelt sind. Wir bilden im wahrsten Sinne des Wortes eine lange weiße Linie im Sand. Heute ist diese Grube zu einem Ort geworden, an dem jeder einzelne Moment symbolträchtig ist. Die Bundespolizei kommt in Geländewagen des Konzerns. Schwarze Uniformen schlagen weiße Overalls. Lieder und Sprechchöre prallen auf Schlagstöcke und Pfefferspray, während sich die Bagger in die Erde fressen und Windräder den Himmel grüßen.
Gemeinsam stellen wir uns gegen die eigennützigen Interessen und das perverse Wirtschaften des Kohletagebaus; lebendes Zeugnis der Macht dessen, was möglich ist, wenn sich Massen und Überzeugungen vereinen. Die Bedeutung unserer Überzeugung, dass unsere Aktion moralisch und gerecht ist, lässt sich kaum überbetonen. Sie ist die Grundlage, auf der wir handeln. Sie schweißt uns zusammen und verbindet uns mit den Millionen von unbekannten Unterstützern weltweit.
Aber für die Polizei und RWE behindern wir ein legales Unternehmen dabei, seine Tätigkeit auszuüben, und müssen aufgehalten werden. Als wir in der Ferne eine Reihe von RWE-Jeeps sehen, lösen wir unsere Linienformation auf und bilden wieder die schützende Masse. Die hinteren Jeeps fahren zu den vorderen und die Polizei bricht in einem wahnwitzigen, tobenden, brutalen Gewühl über uns herein. Ich renne, aber durch das Gelände und den schweren Rucksack brechen mir die Beine weg. Dann lande ich mit dem Gesicht im Sand. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich schaue nach oben und sehe die Menschen in Wellen über mich hinweg strömen. Alle versuchen weiterzukommen, alle versuchen, nicht auf mich drauf zu treten. Mir bleibt nichts übrig, als die Augen zu schließen und mich schamlos wie ein Embryo zusammenzurollen. Mein Gesicht brennt. Mein linkes Auge und meine Hände brennen wie Feuer. Eine Wolke von Pfefferspray hängt in der Luft. Sobald ich kann, schaue ich mit meinem funktionierenden Auge auf und sehe Leute in meiner Nähe vor Schmerzen schreien. Die Polizei ist damit beschäftigt, ihnen die Arme auf den Rücken zu drehen und sie mit Kabelbindern zu fesseln. Angst, Adrenalin und Zorn erfüllen die Luft: „HINSETZEN!“ „STEHENBLEIBEN!“ „KEINE BEWEGUNG!“ Also liege ich hier. Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit vergeht. Doch dann beruhigt sich die Lage. Die Polizei hat uns eingekesselt. Meine Wunden vom Pfefferspray halten sich in Grenzen. Ich bin einer der wenigen ohne Handschellen und kann mich bewegen, sodass ich in der Lage bin, mitzuhelfen, die Menschen zu versorgen und die Angst und den Horror der vergangenen Stunden durch etwas so viel Wärmeres und Fürsorgliches zu ersetzen. Während wir dabei sind, einander zu helfen, nehmen die Polizisten ihre Helme ab und einer von ihnen reicht mir eine Wasserflasche, damit ich jemandem die Augen spülen kann. Sie sind wieder zu Menschen geworden. Wir sind nicht länger eine kämpferische, vorwärts stürmende Protestgruppe und die Polizisten sind nicht länger brutale Kampfmaschinen. Stattdessen sind wir eine erschöpfte Gruppe von Menschen auf dem Grund eines gigantischen, vielfarbigen Erdlochs, und unsere menschliche Dimension ist durch die Gewaltigkeit der Kohlegrube auf Zwergengröße hinuntergeschrumpft. Wir erfahren, dass viele der Männer und Frauen, die uns umstellt haben, unserem Protest im Grunde zustimmen. Es ist ziemlich komisch zu merken, dass wir alle trotz der brutalen Ereignisse der vergangenen Stunde eigentlich nur unsere Rollen spielen in einem viel größeren politischen Spiel.
Photo: Tim Wagner
Irgendwann dann erfahren wir, dass der Tagebau komplett außer Betrieb gesetzt wurde. Jubelschreie hallen aus der Grube nach oben. Wir haben soeben einen der größten CO2-Verursacher Europas lahmgelegt. Die Maschinen, die sonst 24 Stunden am Tag Braunkohle aus der Erde schaufeln, stehen still. Und RWE, der EU-weit kohlenstoffintensivste Energiekonzern, verliert gerade Unsummen von Geld. Der Siegesrausch neigt sich gemeinsam mit dem Tag dem Ende zu. Die Polizei beginnt damit, unsere Personalien aufzunehmen, irgendjemand jongliert mit Steinen, wieder jemand macht Yoga mit den Händen hinterm Rücken, einige lesen, andere erfinden revolutionäre Ratespiele.
In der Luft liegt ein friedvoller Widerstand. Ich fühle mich von wunderbaren, inspirierenden Menschen umgeben. Schließlich bringt man uns in Gefangenentransportern vom Tagebau fort. Dann werden wir in Stadtbusse verlagert, wo wir mit hunderten anderen zusammentreffen. Während wir unsere Erlebnisse miteinander teilen, wird unsere gemeinsame Erschöpfung von Augenblicken der Verbundenheit durchbrochen, die viele von uns für den Rest ihres Lebens erhalten bleiben wird. Wie sich herausstellt, ist unser Ziel ein 50 Kilometer entferntes Polizeirevier in Aachen, wo wir in den Bussen warten müssen. Die Stunden ziehen sich schier endlos in die Nacht hinein, bis uns plötzlich die Nachricht erreicht, dass wir zum Bahnhof gebracht und freigelassen werden sollen.
Die Polizei versucht gar nicht erst, uns zu identifizieren. Der ganze Bus bricht in euphorischen Jubel und Gesang aus. Die Erschöpfung, die Angst und die Sorge sind verbannt wie ein böser Traum und an ihre Stelle tritt ein berauschendes, schwindelerregendes Siegesgefühl. Es ist kaum zu glauben. Für die letzten 24 Stunden habe ich mein normales Leben hinter mir gelassen und eine sowohl unvertraute als auch furchterregende Rolle ausprobiert, wobei ich die ganze Zeit über nicht sicher war, ob sich das, was ich da tat, auch wirklich lohnte. Aber auf den Straßen von Aachen und in den Medien begegnete man Ende Gelände mit Anerkennung und Respekt: Tausende ganz gewöhnliche Menschen teilen unser Anliegen. Wenn sich nun jeder dieser Menschen dazu inspiriert fühlt, sich – wie gering auch immer – zu engagieren, dann würde ich mich jeder Zeit und immer wieder in das Gewühl aus Pfefferspray und Schlagstöcken stürzen. Diese Aktion ist für mich der Beweis dafür, wie unfassbar mächtig wir werden können, wenn wir anfangen, aus unserem kollektiven Selbst heraus zu handeln.
Ich hoffe, dass wir nun in eine Ära übertreten, die als eine Zeit in Erinnerung bleiben wird, in der sich gewöhnliche Menschen zusammengefunden und Außergewöhnliches vollbracht haben. Und so sitze ich hier im Mitternachtszug inmitten ausgelassener Feierstimmung mit einem Bier und in ein philosophisches Gespräch mit irgendjemandem vertieft, den ich gerade erst kennengelernt habe. Und überwältigt von wilden, irren, törichten Gefühlen kommt mir der Gedanke, dass es vielleicht doch noch Hoffnung für unsere verrückte Spezies gibt.
Photo: Paul Wagner
Ursprünglich in drei Teilen veröffentlicht: