Bei der #AntiKohleKette außerhalb des Geisterdorfes Immerath in Nordrhein-Westfalen am 25. April 2015.
Ich weiß nicht mehr genau, wie wir ins Gespräch kamen. Ich glaube, ich fragte ihn, ob der Traktor da drüben ihm gehöre. Er war tatsächlich seiner. Der Traktor zog einen mit Transparenten geschmückten Anhänger. Auf einem Transparent war eine Karte, mit der von den Demonstranten geforderten Grenze des Tagebaus eingezeichnet. Ich hatte den Traktor schon vorher gesehen, er tuckerte an mir vorbei und zwei Frauen sangen: „Billa, lass uns tanzen, bis der Bagger kommt. Solang sich unsere Füße drehen, bleibt die Erde steh’n.”
Der Traktor bei seinem Ausflug zum Protest; der Bauer zurückhaltend in seiner roten Schirmmütze die Menge beobachtend; ich darauf bedacht mein Social Media Equipment unter meiner Jacke vor dem Regen zu schützen; und etwa 5.998 andere Menschen mit gelben Bändern. Wir standen an Feldern, die nach derzeitigem Stand in zwei, drei Jahren nicht mehr existieren werden. Das Dorf des Bauern – Holzweiler – bildete den Hintergrund dieser ernsten Szene. Er wusste noch nicht, ob auch auf sein Land für die Kohle abgebaggert werden würde.
Ich hörte, wie ein Aktivist der Menge erklärte: „Das hier sind offene Tagebau. Das heißt, dass die Kohle nicht durch Bohrungen unter der Erde gefördert wird. Stattdessen wird der Boden und alles, was sich darauf befindet, abgetragen, um an die Kohle zu gelangen. Also Felder, Häuser, Krankenhäuser, Kirchen, Wälder – alles kommt weg.”
Der Bauer, vielleicht etwa so alt wie mein Vater, sagte mir, das Schlimmste sei die Ungewissheit. Wie soll man planen oder mit der Situation umgehen, wenn man nicht weiß, ob man in ein paar Jahren mit seiner Familie umgesiedelt wird? Und wie funktioniert das überhaupt praktisch? Wie kann man die Felder und Ernten ersetzen? Kann man die Heimat, die Lebensgeschichte und Existenzgrundlage eines Menschen ersetzen? Er meinte, für ihn sei es vielleicht nicht so schlimm. Aber wie solle es mit seinem Sohn weitergehen? Was würde der tun?
Es heißt, dass hunderte von Arbeitsplätzen bedroht sind, wenn die Tagebaue schließen. Aber hier hörte ich nicht nur Geschichten über verlorene Arbeitsplätze, sondern auch über verschwindende Gemeinden. Dabei wird auf schmutzige Tricks zurückgegriffen. Der Bauer, Herr Schmitz, erzählte mir, dass der Energiekonzern RWE, dem die Kohlereserven im rheinischen Revier gehören, bereits Jahre vor dem Abriss in die Gemeinden kommt. Wenn den Dorfbewohnern Entschädigungen für die Umsiedlung geboten wird, reagieren viele erst einmal erwartungsgemäß mit Widerstand. „Aber die Zeit macht sie weich”, sagte Herr Schmitz. RWE beginnt dann damit, Dinge in der Umgebung abzureißen, wo sie bereits Zugang haben. So entsteht der Eindruck, dass die Arbeiten bereits in vollem Gange sind. Dann nehmen einige Bewohner das Angebot an und ziehen weg. So verlieren die lokalen Geschäfte ihre Kunden vor Ort . Wie kann die Bäckerei sich halten, wenn sich das Dorf langsam auflöst? Sobald die ersten weggehen, kommt es zu einem Domino-Effekt.
Im Hintergrund sehen wir auch das Dorf Immerath. Dort herrscht eine seltsame Atmosphäre. Es ist unheimlich, weil alles vernagelt ist. Gelbe Bänder an Türklinken und Gartentoren hängen entlang der Straße, um dem Dorf Ehre zu erweisen. Einen Nachmittag lang bringen die Demonstranten etwas Farbe ins Dorf. Sie sind hier, um gegen die Ausweitung der Braunkohletagebaue zu protestieren, der dem Klima, der Luft und der Gesundheit schadet und ganze Gemeinden zerstört.
Herr Schmitz zeigt auf ein Gebäude und erzählt mir, dass es einst ein Krankenhaus gewesen sei. Jetzt ist es leer und zugenagelt. Einige Bewohner leisten weiter Widerstand und harren noch im Dorf aus. Es gibt jedoch keine Läden, keine Kirche oder andere Dienstleister mehr vor Ort.
Er erzählt mir, dass vier weitere, jahrhundertealte Dörfer in den nächsten 15 Jahren zerstört werden sollen. Er zeigt mir das Transparent auf der anderen Seite des Traktors. Auf ihm finden sich die Namen dieser Dörfer und jener, die – wie auch sein eigenes – noch zur Debattte stehen.
Herr Schmitz hat vor fast genau 30 Jahren an seiner ersten Menschenkette hier teilgenommen. Er leistet nach wie vor Widerstand. Das Gespräch mit ihm machte mich traurig, aber vielleicht dreht der Wind gerade und wir sind auf der Gewinnerseite. RWE hat €31 Milliarden Schulden; Kohle wird immer teurer, erst recht, wenn man die externen Kosten hinzurechnet; Emissionen von Kohlekraftwerken sollen begrenzt werden; und uns wird bewusst, wie wenig wir von dem schwarzen Zeug nur noch verbrennen dürfen (90% der europäischen Kohlevorkommen müssen im Boden bleiben, wenn wir das 2-Grad-Ziel einhalten wollen). Und dann ist da noch die stetig wachsende Anti-Kohle-Bewegung.
Herr Schmitz ist mir ans Herz gewachsen. Er gab mir seine Adresse für den Fall, dass ich ihn und seine Familie einmal auf ihrem Bauernhof besuchen wolle. Als ich ihm und seinem Traktor nachwinkte, versprach ich diesen Blog zu schreiben und seine Geschichte zu teilen, damit die Leute mehr darüber erfahren, warum wir vom 14. bis 16. August in einen 400-Meter-tiefen Tagebau klettern und die größten Bagger der Welt anhalten wollen. Hier kannst du mehr über die Aktion erfahren..
Mein besonderer Dank geht an Herrn Schmitz, der sich an jenem Samstagnachmittag die Zeit nahm, seine Geschichte mit mir zu teilen. Vielen Dank auch an alle, die dabei helfen, sie weiterzuverbreiten. Herr Schmitz, ich glaube, wir sehen uns wieder.